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Zwischen Heidelberg und Hangzhou

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Universitätsalltag in zwei Kulturen

Nach mehreren Wochen an der Zhejiang University (ZJU) in Hangzhou kristallisieren sich fundamentale Unterschiede zu unserem gewohnten universitären Umfeld in Heidelberg heraus. Diese Beobachtungen gehen weit über oberflächliche kulturelle Differenzen hinaus und offenbaren tieferliegende Strukturen verschiedener Bildungssysteme und Gesellschaftsmodelle.

Die folgenden Analysen basieren auf unseren direkten Erfahrungen und sollen ein differenziertes Bild der jeweiligen akademischen Kulturen zeichnen. Es handelt sich bewusst um ein dynamisches Dokument, das mit zunehmender Verweildauer an der ZJU kontinuierlich erweitert und verfeinert wird.


Campus-Architektur und räumliche Konzeption

Die Universität Heidelberg repräsentiert das klassische Modell einer in die Stadtstruktur integrierten Hochschule. Unser Alltag in Heidelberg ist geprägt durch eine 44m² Wohnung außerhalb der Stadt mit eigener Küche, etwa 20 Minuten Straßenbahnfahrt zum Campus, und Lehrveranstaltungen, die auf mehrere Gebäude in dem Neuenheimer-feld verteilt sind. Das universitäre Leben findet geografisch fragmentiert statt – Wohnen, Lehre und Freizeit sind räumlich getrennte Sphären.

Der Campus der Zhejiang University präsentiert sich hingegen als in sich geschlossenes akademisches Ökosystem. Wir bewohnen zwei getrennte Zimmer von jeweils 10-15m² direkt auf dem Campus, mit Gemeinschaftsküche (2 pro Gebäude), Wasserspendern die auch kochendes Wasser liefern, sowie gemeinschaftlich genutzten Waschmaschinen und Trocknern. Ein Family Mart direkt vor der Tür bietet 24 Stunden Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und Snacks. Die Mobilität innerhalb des Campus erfolgt primär über Bike-Sharing-Systeme, während die U-Bahn für Fahrten in die Stadt genutzt wird.

Bemerkenswert ist die Verteilung der ZJU auf sieben verschiedene Campus-Standorte, wobei der universitäre Stolz sich visuell in omnipräsenter Merchandise und Logo-Präsenz manifestiert – ein Aspekt, dem wir hier klicken (folgt noch) einen eigenen Artikel widmen werden. Die unterschiedlichen räumlichen Konzeptionen spiegeln verschiedene Philosophien universitärer Bildung wider: Integration versus Separation, gewachsene Strukturen versus planvolle Gestaltung.


Kulinarische Infrastruktur und Esskultur

Das Heidelberger Mensasystem folgt dem etablierten deutschen Modell subventionierter Hochschulgastronomie. Eine Mensa in unmittelbarer Nähe bietet von 11:00 bis 14:00 Uhr Mittagsverpflegung an, das Powermeal kostet 2,90€. Für weitere Lebensmittel ist man auf vergleichsweise teure Supermärkte wie Rewe angewiesen. Die Verpflegungsstrukturen an der ZJU offenbaren eine andere Herangehensweise an universitäre Gemeinschaftsgastronomie: Fünf Mensen befinden sich im 10-Minuten-Umkreis, die nächste ist zwei Minuten entfernt. Ein Frühstück mit Nudeln kostet 5¥ (etwa 60 Cent), Mittag- und Abendessen durchschnittlich 18¥ (2,16€).

Zusätzlich ermöglicht die App Meituan die Bestellung von Essen direkt an das Universitätstor, wo es in zweiseitige Boxen oder Regale gepackt wird, die sich per Smartphone öffnen lassen. Die Preisunterschiede zwischen den beiden Systemen sind erheblich und werden in einem hier klicken (folgt noch) separaten Artikel zur Mensakultur detailliert analysiert. Die Esskultur fungiert als Spiegel gesellschaftlicher Werte und zeigt unterschiedliche Konzepte von Gemeinschaft und individueller Verantwortung auf.


Lehrformate und didaktische Ansätze

Das deutsche Universitätssystem zeichnet sich in Heidelberg durch bestimmte didaktische Traditionen aus. Vorlesungen umfassen typischerweise 40 bis 200 Teilnehmer und folgen meist einem zweistündigen Monolog des Professors, zweimal wöchentlich. Anwesenheitspflicht existiert in mathematischen Fächern nicht.

An der ZJU begegnen wir alternativen pädagogischen Ansätzen. Die Kursgrößen bewegen sich zwischen 10 und 30 Teilnehmern, wobei es sich überwiegend um Masterkurse handelt. Eine systematische Anwesenheitskontrolle ist obligatorisch – eine Erfahrung, die für uns vollkommen neu ist. Die Bibliothek präsentiert sich deutlich größer dimensioniert und wird hier klicken (folgt noch) in einem separaten Artikel behandelt.

Der Fokus liegt stärker auf Eigenarbeit der Studierenden, während klassische Übungszettel und umfangreiche Hausaufgaben weniger zentral sind. Anstelle von Klausuren dominieren schriftliche Berichte als Prüfungsform – ein System, das die Anforderungen in manchen Bereichen modifiziert. Die unterschiedlichen Lehrphilosophien reflektieren verschiedene Konzepte von Wissensvermittlung und intellektueller Entwicklung, wobei die Betonung auf Anwesenheit und kontinuierlicher Mitarbeit versus selbstbestimmtem Studium unterschiedliche Vorstellungen von akademischer Reife offenbart.


Technologische Integration

Der technologische Standard in Heidelberg repräsentiert den aktuellen Entwicklungsstand deutscher Hochschulen: Online-Übungszettel und digitale Skripte bilden die Basis der digitalen Infrastruktur. An der ZJU erleben wir eine andere Dimension technologischer Integration. Die Plattform DingTalk hier klicken (folgt noch) dient als zentrale Kommunikations- und Organisationsinfrastruktur. Vorlesungsaufzeichnungen mit automatisch generierten Untertiteln sind Standard, wobei die physische Raumfindung paradoxerweise trotz der technischen Sophistication initial erhebliche Schwierigkeiten bereitete.

Die Platzreservierung in der Bibliothek erfolgt digital über eine App, ebenso wie Bestellungen im campuseigenen Starbucks. Zahlungssysteme wie Alipay und WeChat hier klicken (folgt noch) dominieren den gesamten Transaktionsverkehr. Der Zugang zu internationalen Diensten erfordert VPN-Verbindungen hier klicken (folgt noch), ein Aspekt der digitalen Infrastruktur, der die globale Vernetzung studentischen Lebens tangiert. In Unterrichtsräumen installierte Kameras sind Teil der technischen Ausstattung, ein Element, das die unterschiedlichen Ansätze zur Gestaltung des Lernumfelds verdeutlicht.


Studentische Gemeinschaft und soziales Leben

Das soziale Leben deutscher Studierender in Heidelberg folgt etablierten Mustern. Spieleabende der Fachschaft und selbstorganisierte Treffen strukturieren das Gemeinschaftsleben. Die studentische Kultur in Hangzhou zeigt alternative Formen des Gemeinschaftslebens auf. Feste Clubaktivitäten wie die International Students Union (ISU), Kaffeeclubs und Schachclubs bieten institutionalisierte Vernetzungsmöglichkeiten.

Als Austauschstudierende erleben wir gelegentlich eine gewisse Distanz, da Sprachbarrieren die Kommunikation erschweren und die Präsenz internationaler Studierender manchmal einschüchternd wirken kann. Das universitäre Musikfestival hier klicken (folgt noch) bildet einen kulturellen Höhepunkt des Campus-Lebens. Die unterschiedlichen Formen studentischer Organisation reflektieren verschiedene Konzepte von Gemeinschaftsbildung – spontane, selbstorganisierte Initiativen versus institutionalisierte, strukturierte Angebote.


Administrative Strukturen und Organisation

Die universitäre Administration in Heidelberg spiegelt charakteristische Züge deutscher Bürokratie wider, primär über das Online-System Heico organisiert. An der ZJU begegnen wir alternativen administrativen Ansätzen, wobei DingTalk hier klicken (folgt noch) als zentrale Plattform für sämtliche administrativen Prozesse fungiert. Die Digitalisierung administrativer Abläufe erreicht hier eine andere Integrationsdichte, die sowohl Effizienzgewinne (und Verluste) als auch neue Formen der Strukturierung universitären Lebens mit sich bringt.


Zwischenbilanz nach vier Wochen

Die bisherigen Erfahrungen an der ZJU haben unsere Perspektive auf universitäre Bildung erheblich erweitert. Anstatt simplifizierende Werturteile zu fällen, gilt es, die systemischen Unterschiede in ihren jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten zu verstehen.

Mehrere Aspekte haben unsere Erwartungen übertroffen: Das Leben auf dem Campus entfaltet eine unerwartete Qualität, die wir so nicht antizipiert hatten. Das Frühstücksangebot der Universität bietet eine kulinarische Vielfalt, die den deutschen Standard deutlich übersteigt. Die Integration sportlicher Aktivitäten in den Universitätsalltag erfolgt seamlos und niedrigschwellig. Die Bike-Sharing-Infrastruktur ermöglicht eine Mobilität, die in Heidelberg in dieser bequemen Form nicht existiert.

Andere Aspekte erfordern kontinuierliche Anpassung: Als Vegetarier hier klicken (folgt noch) stellt die Ernährung eine tägliche Herausforderung dar, der wir einen separaten Artikel widmen werden. Das Wohnheim erforderte zunächst umfangreiche Reinigungsarbeiten. Die Tatsache, dass Leitungswasser nicht trinkbar ist, verändert alltägliche Routinen grundlegend.

Unerwartete Dimensionen der Erfahrung kristallisieren sich heraus: Das Fehlen klassischer Klausuren zugunsten schriftlicher Berichte verändert die Struktur des Semesters fundamental. Freie Wochenenden ohne verpflichtende Veranstaltungen ermöglichen eine andere Zeiteinteilung. Unterricht bis in die Abendstunden strukturiert den Tag anders als in Heidelberg.

Diese erste Analyse bildet den Ausgangspunkt für vertiefende Betrachtungen spezifischer Aspekte, die in den kommenden Wochen und Monaten folgen werden. Das Verständnis universitärer Bildung erweist sich als weitaus komplexer und kulturell eingebetteter, als oberflächliche Vergleiche suggerieren würden.


Dieser Artikel wird kontinuierlich erweitert, während unser Semester an der ZJU fortschreitet. In den kommenden Wochen folgen vertiefende Analysen zu den hier angerissenen Themen – von der Mensakultur über digitale Infrastrukturen bis zur vegetarischen Ernährung in China.

Bis zur nächsten Beobachtung aus Hangzhou,
Elias & Ronja